Der Begriff „Zeitenwende“ ist derzeit im Trend. Bundeskanzler Olaf Scholz beschrieb damit die neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen, vor denen Deutschland nach dem russischen Angriff auf die Ukraine steht. Heute wird es aber auch in anderen Zusammenhängen verwendet. Die Wirtschaftspolitik und Volkswagen sind ein herausragendes Beispiel für die aktuellen Herausforderungen.
Die deutsche Automobilindustrie steckt durch den zunehmenden Bedeutungsverlust von Verbrennungsmotoren in den Hauptmärkten (USA, China, Europa) und den Übergang zur Produktion von Elektroautos in Schwierigkeiten.
Elektromobilität wird immer wichtiger. Die aktuelle Studie des Beratungsunternehmens PricewaterhouseCoopers (PwC) besagt, dass die Zahl der Zulassungen batteriebetriebener Fahrzeuge (BEV) in den kommenden Jahren deutlich steigen wird. Marktbeobachter aus Frankfurt zeigen, welche Modelle derzeit erfolgreich sind und welche nicht. Aus deutscher Sicht ist das besorgniserregend: Teslas Model Y ist mit Abstand das meistverkaufte Auto in wichtigen Märkten. VW-Modelle liegen weit zurück.
Elektromobilität vernichtet Arbeitsplätze
Frank Schwope von der Hochschule für Mittelstand in Hannover sieht darin einen der Gründe für die Probleme des größten deutschen Automobilherstellers Volkswagen. Auf Nachfrage der DW sagt der Autoexperte, dass dabei „die großen Veränderungen, die von der chinesischen Konkurrenz kommen“, eine wichtige Rolle spielen. Laut VW führen diese Veränderungen zu einem starken Gewinnrückgang: Im dritten Quartal 2024 lagen die Gewinne rund 64 Prozent niedriger als ein Jahr zuvor.
Als Reaktion darauf plant der Konzern Einsparungen vor allem bei den Arbeitskosten. Eine zehnprozentige Lohnkürzung würde 800 Millionen der geplanten Einsparungen von vier Milliarden Euro bringen. Darüber hinaus plant VW laut Betriebsrat die Schließung von drei Fabriken und den Abbau von Zehntausenden Arbeitsplätzen.
In Belgien ergreift der zum VW-Konzern gehörende Audi konkrete Schritte und plant, die Produktion von Elektroautos in Brüssel Ende Februar einzustellen – dort sind rund 3.000 Menschen beschäftigt. Dies sagte ein Vertreter der belgischen Gewerkschaft CNE am Dienstag (29. Oktober) gegenüber der Agentur AFP.
Wie ernst die Lage sei, bestätigte die Präsidentin des Verbandes der Automobilindustrie (VDA), Hildegard Müller, am selben Tag. Ihr zufolge wird der Übergang zur Elektromobilität in den nächsten zehn Jahren 140.000 zusätzliche Arbeitsplätze in der deutschen Automobilindustrie kosten. Bis 2019 wurden bereits rund 46.000 Stellen abgebaut. „Die Transformation unserer Branche ist eine riesige Aufgabe“, sagte sie gegenüber Reuters und fügte hinzu: „Es ist wichtig, dass die Politik diese Veränderungen unterstützt.“
Politiker und VW
Der Ruf an die „Politik“ wird immer dann laut, wenn Unternehmen günstigere Geschäftsbedingungen anstreben. Im Fall von Volkswagen hat dieser Aufruf besonderes Gewicht, weil in dieser Krise auch die Politik involviert ist.
Volkswagen wurde 1938 als staatliches Unternehmen gegründet und war auch nach der Niederlage Deutschlands im Zweiten Weltkrieg und der Wiederaufnahme der Produktion nie völlig unabhängig. Der niedersächsische Ministerpräsident, dessen Hauptsitz sich in der Stadt Wolfsburg befindet, ist Mitglied im Aufsichtsrat dieses Konzerns.
Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) befindet sich in einer Doppelrolle – er sucht nach „alternativen Lösungen“ und möchte, dass sich die Politik stärker einbringt, etwa durch neue Anreize beim Kauf von Elektroautos und andere Erleichterungen aus der EU.
Auf Bundesebene sei bisher nichts unternommen worden, um die Rahmenbedingungen der Wirtschaft zu ändern, sagt die Leiterin des Büros des American German Marshall Fund in Berlin, Sudha David-Wilp. Im DW-Interview fügt er hinzu, dass die wirtschaftlichen Schwierigkeiten Deutschlands mutige und schmerzhafte, aber notwendige Reformen erfordern.
„Die Jahre unter der Führung von Frau Merkel waren für Deutschland recht angenehm.“ Das Land hat auch die COVID-19-Pandemie überstanden. Aber jetzt sind Reformen nötig“, präzisierte David-Wilp. Aber traditionelle Parteien fürchten den Aufstieg der Populisten, und das ist ein ernstes Problem.
Für Volkswagen wird die Situation zusätzlich dadurch erschwert, dass die Berliner Politik bei der Förderung von Elektroautos keinen konsequenten Kurs verfolgt. Die Regierungsparteien SPD, Grüne und FDP haben keine gemeinsame VW-Führungspolitik.
Allgemeine Wirtschaftskrise
Doch die Krise bei Volkswagen ist nur ein Teil einer viel größeren Krise. Der ehemalige Präsident des Instituts, Ifo Hans-Werner Sinn, glaubt, dass „Volkswagen nur Opfer der E-Mobilität, der Beschränkung von Verbrennungsmotoren in der EU und der hohen Energiekosten in Deutschland“ sei.
Selbst Franziska Palmas, Ökonomin beim Londoner Unternehmen Capital Economics, sagt gegenüber der DW: „VW ist symptomatisch für die umfassendere Krise der deutschen Industrie, die sich in einem Produktionsrückgang von etwa zehn Prozent im Juli im Vergleich zu Anfang 2023 zeigt.“ .
„Volkswagen ist ein Symbol für den Erfolg der deutschen Wirtschaft in 90 Jahren“, sagte Carsten Brzeski der DW. Doch nun symbolisiert VW eine Krise: „Die Probleme von VW sollten ein letzter Weckruf für die deutsche Politik sein, das Land für Investitionen attraktiver zu machen.“